China ist ein fernes exotisches Land, und obwohl nicht viele Leute wissen, was es mit den Chinesen auf sich hat, gibt es eine Menge Menschen, die sofort eine Meinung haben und die das Land wegen Menschenrechtsverletzungen anklagen, weil der dauergrinsende Dalai Lama dort nicht so hoch im Ansehen steht wie im Westen. Jedenfalls kommt China im Westen nicht besonders gut weg, und wenn aus China berichtet wird, dann höchstens über Piraterie, Umweltsünden und Naturkatastrophen. Und da ist es gut, dass mal jemand über China schreibt, der einen anderen Blick auf das Land hat und der sich mit dem ausdrücklichen Wunsch, selber Chinese zu werden, auf einen beschwerlichen Trip begeben hat.
Der ehemalige Titanic-Redakteur Christian Y. Schmidt ist mit einer Chinesin verheiratet und lebt schon seit ein paar Jahren in Peking, ein Experte ist er deshalb nicht. Die Sprache beherrscht er nur rudimentär, aber er machte sich dennoch auf eine 5386 Kilometer lange Reise quer durch das Land vom Gelben Meer im Osten bis zum Himalaya, und zwar auf der Nationalstraße 318, die so was ähnliches ist wie die Route 66 in Amerika. Sich in einem Land zu bewegen, ohne sich besonders gut verständigen zu können, ohne Reiseleiter und ganz auf sich allein gestellt, mag heute zwar nichts mehr Besonderes sein, aber in China ist das etwas anderes. Schmidt begibt sich in eine ähnliche Situation wie die frühen englischen Reiseschriftsteller des vorletzten Jahrhunderts, die auch nicht so genau wußten, auf was sie sich einlassen. Schmidt wird wie sie mit abstrusen Abenteuern und Begebenheiten konfrontiert, an die er uns teilhaben lässt und die wir bequem zu Hause im Sessel nachlesen können, die man selber aber nicht unbedingt erleben will, weil sie nur für den Leser spannend sind, für den Autor jedoch nervtötend und anstrengend.
Jedenfalls erfährt man durch seine Art der Beschreibung mehr über die Chinesen als durch irgendwelche ziegelsteindicken soziologischen Abhandlungen. Die Chinesen strahlen eine große Gelassenheit aus: »Ich staune jedes Mal, wenn ich in Peking abgerissene Lumpensammler beobachte, die auf den leeren Ladeflächen ihrer Dreiräder hocken. Sie haben offensichtlich den ganzen Tag noch keinen Cent verdient, und trotzdem schwatzen sie stundenlang, lachen und rauchen Zigaretten, als seien sie die reichsten Männer der Welt.« Aber wenn den Chinesen der Geduldsfaden reißt, dann laufen sie auch Amok und prügeln ohne Rücksicht auf Verluste aufeinander ein. Und sie sind das schaulustigste Volk der Welt: »Ich habe einmal fünfzig meiner Nachbarn eine geschlagene Stunde auf die unverhüllte Leiche eines Selbstmörderin starren sehen, die aus dem 15. Stock gesprungen ist und zermatscht auf dem Pflaster lag.« Okay, das sind jetzt nicht unbedingt gravierende Unterschiede zu den Deutschen, aber es sind ja gerade die Ähnlichkeiten, die verblüffen, denn gerade von den Chinesen hätte man das nicht unbedingt gedacht, jedenfalls nicht von dem Bilderbuchchinesen, der sich hierzulande in den Köpfen eingeprägt hat.
Solche Episoden gibt es in dem Buch zuhauf und einige von ihnen belasten das im Westen zusammengefügte Bild einer kommunistischen Diktatur nicht unerheblich. Zum Beispiel, wenn auf einem öffentlichen Platz einige Körperbehinderte schreckliche Musik spielen, von der Polizei unter großer Anteilnahme von Schaulustigen ermahnt werden, doch bitte damit aufzuhören, was im Westen wahrscheinlich als Unterdrückung von Minderheiten gewertet werden würde, um nach dem Abrücken der Staatsmacht sich an genau dem selben Ort wieder zusammenzufinden und weiter zu musizieren.
Interessantes erfährt man auch über das im Westen beliebte Thema Piraterie, das so ziemlich jeder Staatsgast in Peking anspricht. Wirklich geklaut aber hat der Westen. Zum Beispiel »Nudeln, faltbare Regenschirme, Drachen, den Kompass, Seide, Papiergeld, Stahl und Toilettenpapier. Bezahlt wurde nie, denn als die Westler die Erfindungen abkupferten, war das Copyright noch nicht erfunden. Wenn die Chinesen aber heute ein paar Gucci-Taschen, Ritter-Sport-Schokoladetafeln und Rolexuhren kopieren, redet alle Welt von geistigem Diebstahl, statt einfach froh zu sein, dass China nicht den Rest der Welt auf Billionen verklagt, allein für das Nachkochen von Stahl.« Das klingt sehr einleuchtend und lässt das Geschrei um die schlimme Kopiererei in einem etwas anderen Licht erscheinen.
Aber es gibt nicht nur Nettes über den Chinamann zu berichten. Auch in dem großen weiten Land trifft man auf Leute, die mit strahlendem Lächeln »Cheil Xitele« ausrufen, wenn sie erfahren, dass man aus Deutschland kommt, weil sie glauben, einem eine Freude damit zu machen. Immerhin hört sich das lustig an, dennoch, so meint Christian Schmidt, wäre es vielleicht sinnvoll, wenn das Goethe-Institut mal Aufklärung betreiben und den Chinesen erklären würde, dass Hitler nicht nur ein großer Verbrecher war, sondern auch ein Bundesgenosse der Japaner, die im Zweiten Weltkrieg den Chinesen übel mitspielten, statt »immer nur Juli Zeh oder DJ Fix und Foxi nach Peking einfliegen zu lassen«.
Diese kleinen Abschweifungen bereiten großes Vergnügen, aber im Vordergrund des Buches steht die Reise selbst, wie z.B. das Inspizieren des größten Staudamms der Welt, der auf vehemente Kritik stieß, aber immerhin soviel Energie erzeugt wie die Verbrennung von fünfzig Millionen Tonnen Kohle, was vermutlich zu einem ziemlich hohen Grad an Luftverschmutzung führen und so stinken würde wie in Neukölln im Winter in den siebziger Jahren. Für den Bau des Staudamms wurden 27,94 Millionen Kubikmeter Beton und 463000 Tonnen Stahl verwendet. »Für mich gibt es zumindest keinen Zweifel: Dieser Damm ist sicher.« Das ist doch schon mal sehr beruhigend, auch wenn der Damm nicht gut aussieht, aber das muss er auch nicht unbedingt. Dafür haben die Chinesen bei der Eröffnung der Olympischen Spiele neue ästhetische Maßstäbe gesetzt und der Welt gezeigt, wie man so ein Spektakel richtig inszeniert.
Eine Begebenheit der besonderen Art entdeckt Christian Schmidt im Busbahnhof von Fengdu, wo er sich nach Reiseverbindungen erkundigen will, dann aber Plakate entdeckt, auf denen grauenhafte Busunglücke abgebildet sind. »Die Plakate sind nicht unbedingt Werbung fürs Busfahren in China, und ich frage mich, warum man die Unfälle den Passagieren zeigt. Will man die Leute fertigmachen?« Aber solche ungelösten Rätsel sind es doch letztlich, die eine Reise durch unbekannte Länder spannend machen und die, da kann man sicher sein, nie in einem der üblichen Reisebücher auftauchen, die die Gehirne der Touristen mit einem Overkill an Informationen zu bombardieren.
Nein, in diesem Buch erfährt man nicht unbedingt sensationelle Neuigkeiten, aber wenn sich bislang das Weltbild über China aus der Tagesschau oder den heute Nachrichten zusammensetzt, wovon man bei den meisten Deutschen ausgehen kann, dann ist man nach der Lektüre von Christian Y. Schmidts Buch »Allein unter 1,3 Milliarden« nicht nur klüger, sondern hatte auch das Vergnügen, etliche im Umlauf befindlichen Vorurteile ad acta legen zu können, ganz abgesehen davon, daß das im angenehmen Plauderton verfasste Buch mit einem versierten und unaufdringlichen Humor und Witz daher kommt und sich deshalb verschlingen lässt wie nichts gutes. Ich finde, ein Buch über China sollte man in seinem Leben schon mal gelesen haben. Das von Christian Y. Schmidt ist da keine schlechte Wahl.
Christian Y. Schmidt »Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu«, rowohlt Berlin 2008, 318 Seiten, ??.- Euro